Trauer ist Liebe

Zwischen Verzweiflung, Hoffnung und Zuversicht 

Andreas Schulz

Andreas Schulz absolvierte am Institut für Trauerarbeit e. V. in Hamburg vor vielen Jahren eine Ausbildung. Seitdem arbeitet er selbstständig als Bestatter und Trauerbegleiter, als Zuhörer, Redner und Autor. Er lebt mit seiner Frau und den beiden Söhnen im Nordosten Deutschlands bei Usedom.

Eigentlich liebt er seine Arbeit … wenn da nicht diese Unsicherheit und die schwer greifbaren Fragen wären, die sich ihm immer wieder aufdrängten: „Habe ich alles getan für die Hinterbliebenen? Wirklich alles? Und war es richtig?“

Er fährt für ein paar Tage ins Kloster, um fernab aller Hektik zurückzublicken und nachzudenken. Mit im Gepäck: Notizen, die er sich von einigen seiner Begleitungen gemacht hatte. Dass es gerade seine eigenen Aufzeichnungen sind, die ihn wieder erden, wird ihm schon bald beim Lesen bewusst.

Inhalt

Prolog       Trauer ist Liebe? / Seite 5

                   Meine Fahrt ins Kloster / Seite 9


Kapitel 1   
Peter. Mein heimlicher Held / Seite 15

Kapitel 2    Stella. Mein Papa ist auf einem Stern / Seite 21

Kapitel 3    Rosemarie. Im Aschesäckchen / Seite 27

Kapitel 4    Gerhard. Wenn der Lieblingsonkel geht / Seite 35

 

Kapitel 5    Paul. Letzte Reise ohne Motorrad / Seite 43

Kapitel 6    Kevin. Kampf gegen die Säbelzahntiger / Seite 51

Kapitel 7    Jayden. Auf dem Weg in den Himmel / Seite 61

Kapitel 8    Briefwechsel mit Frau E. / Seite 73

Wissenswertes von A – Z nach Andreas Schulz / Seite 93

DANKE / Seite 115

Leseprobe / Prolog

Dienstag, 10:00 Uhr, in Nütschau 

Nach der Anmeldung und Einweisung in den Klosteralltag beziehe ich mein Zimmer im sogenannten Stillen Bereich. Hier wohnen Einzelgäste, die nicht an Seminaren teilnehmen, sondern Dinge für sich selbst aufarbeiten, nach Antworten suchen wie ich. Ein Bett, ein Schreibtisch, ein Schrank, Dusche und WC. Das Zimmer ist schlicht eingerichtet. Kein Schnickschnack. Auf dem Schreibtisch ein kleiner Willkommensblumenstrauß. Was für eine Freundlichkeit der ausbreitet! Ich staune und fotografiere ihn mit dem Handy für Kathrin. Keine Anrufe und Termine, kein Fernseher, weder Radio noch WLAN. Viel Platz für Gedanken! Mein Handy zeigt nur draußen Empfang an. Alle sind herzlich, ich fühle mich umsorgt und geborgen. Ich sortiere die Kleidung in den Schrank, das Waschzeug in die Dusche und meine Notizblätter in die Schreibtischschublade.

 

Ich ziehe die Schublade wieder auf und lege die Blätter auf den Tisch. Vielleicht sollte ich die als Erstes lesen? Bevor ich mir den Kopf zerbreche? Ich habe es nie geschafft, ein Tagebuch zu führen. Es blieb immer nur bei einzelnen Zetteln mit erlebten Ereignissen, die ich unbedingt festhalten wollte. 

Ich beginne die Blätter zeitlich zu ordnen. Meine ersten Notizen liegen schon viele Jahre zurück. Ich war gerade mitten in der Ausbildung zum Trauerbegleiter. Zusammen mit einem Freund übernahm ich damals ein Bestattungshaus. Beide waren wir Quereinsteiger. Jetzt, da ich die Zeilen wieder lese, erscheint es mir, als sei alles erst gestern passiert. Deutlich sehe ich die Bilder vor mir. Von den Angehörigen und von dem kleinen Jungen. Peter hieß er. Er war so tapfer!

Leseprobe / Kapitel 1 / Peter. Mein heimlicher Held

Eines Tages suchten Hinterbliebene spontan unser Büro auf, um uns mit einer Bestattung zu beauftragen. Die Hinterbliebenen: der Lebensgefährte der Verstorbenen Herr Arndt und ihre Eltern. Die junge Frau war erst 30 Jahre alt und hinterließ einen fünfjährigen Sohn, Peter. Weil vorher kein Termin vereinbart worden war, konnte ich mich nicht gedanklich vorbereiten. Emotional verunsichert war ich mir selbst dankbar, dass ich zu Beginn eines jeden Bestattungsgespräches ein kleines Ritual anwende. Gemeinsam mit den Anwesenden entzünden wir eine Kerze. Das hilft den Angehörigen und auch mir, die erste Gesprächshürde zu überwinden. 

An diesem Tag spürte ich zum ersten Mal eine große Hilflosigkeit, die über allen schwebte. Der plötzliche Tod eines geliebten Menschen belastet jede Familie. Doch in diesem Fall wusste niemand, wie man einem kleinen Kind begreiflich macht, dass seine Mutter nie mehr wiederkommt. Wie erklärt man einem so verletzlichen und empfindsamen Wesen das entsetzlich brutale Wort Tod? Vater und Großeltern waren ratlos. Selbst wenn sie es gewusst hätten, hätten sie es nicht übers Herz gebracht. Die Angst davor und die eigene Traurigkeit begründeten wohl auch die Absicht, den Jungen nicht in die Trauerfeier mit einzubeziehen. Er sollte währenddessen in die Obhut eines weiteren Familienmitgliedes gegeben werden. In unserem ausführlichen und intensiven Gespräch schaffte ich es, die Familie davon zu überzeugen, den Jungen kindgerecht einzubeziehen. Wenn Peter den plötzlichen Tod der Mutter schon nicht verstehen würde, so war es doch wichtig für ihn, den Abschied zu begreifen und anzunehmen. Ich schlug vor, dass sich alle am offenen Sarg von der Mutter verabschieden. Das lehnten die Erwachsenen entschieden ab. Die eigene Ohnmacht und die Sorge davor, dass Peter diesen Moment eventuell psychisch nicht verkraften könnte, waren zu groß. Ich erzählte ihnen vom Tod meines Stiefvaters und von den Fehlern, die wir in Bezug auf meinen Sohn begingen. Er war damals auch erst fünf Jahre alt und sehr irritiert darüber, dass er nicht an der Trauerfeier teilnehmen durfte. Es war doch sein Opa, der gestorben war! Wir befürchteten, dass er unruhig werden würde, weil er das alles ohnehin nicht verstehen konnte. Wie sollte er denn auch! Wir gaben ihm ja keine Möglichkeit dazu. Wir waren einfach überfordert und niemand war da, der uns ermutigte, ihn mitzunehmen.

Aus diesem eigenen Erleben schöpfte ich wahrscheinlich die Kraft nicht aufzugeben. Peters Familie sollte nicht den gleichen Fehler begehen wie wir damals. Ich wollte nach einem Weg suchen, bei dem wir den Abschied doch noch gemeinsam mit dem Jungen gestalten. Ich schlug vor, dass alle zusammen mit ihm den Sarg bemalen. Ein Ritual, von dem ich in der Ausbildung erfuhr. Nach anfänglichem Zögern stimmte Peters Vater dieser Form der Verabschiedung zu. Er sollte vorher mit seinem Sohn sprechen und ihn so auf diesen besonderen Moment vorbereiten. Und er sollte ihn fragen, ob er an diesem Tag dabei sein möchte. Ich war aufgeregt. Zum ersten Mal würde ich dieses Ritual mit Hinterbliebenen praktizieren!

Ich stürzte mich sofort in die Vorbereitungen, besorgte Malzeug und Deko und mietete für Samstagvormittag die Trauerhalle. Zusammen mit einem Mitarbeiter gestaltete ich die Halle um. Einen Bereich richteten wir als Abschiedsbereich her. Hier könnten die Angehörigen am offenen Sarg von der Verstorbenen Abschied nehmen. 

 

Einen weiteren Teil der Trauerhalle funktionierten wir zum Kreativbereich um. Wir legten Farben und Pinsel bereit und setzten den Sargdeckel auf Böcke. Jeder, der es wollte, könnte ihn bemalen oder mit einem letzten Gruß beschriften. Ich hatte den Angehörigen vorgeschlagen, Kaffee und Kuchen mitzubringen. Beides wollten sie gern organisieren. Darum schufen wir in einem dritten Bereich eine kleine Ruhezone mit Stühlen und eingedeckten Tischen. Ein letzter prüfender Blick: Ja, nichts fehlt, alles sieht schön aus.

Es war so weit! Die Familie und Freunde der Verstorbenen warteten schon vor der Tür. Der kleine Peter auch. Ich bat sie hinein und zugleich beschlich mich Panik. Was würde passieren, wenn sich niemand aufs Sargbemalen einlässt? Wenn alle nur weinen? Doch ich konnte mich nur kurz auf meinen Anflug der Unsicherheit konzentrieren, denn auch in den Gesichtern der Angehörigen las ich Nervosität, Verlegenheit und Hilflosigkeit. Keiner wollte die Halle als Erster betreten. Ich musste helfen! Ich flüsterte dem Vater zu, dass die Anwesenden sicher von ihm erwarteten, den ersten Schritt zu tun. Bei allem, beim Eintreten in die Trauerhalle und beim Bemalen des Sarges. Als Erster schritt er mit Peter auf dem Arm durch die Tür. Peters Augen blinzelten erwartungsvoll hinein. Alle anderen folgten den beiden. Ich konnte gar nicht so schnell gucken, wie flink Peters kleine Hände in die Farben tauchten. Emsig vertiefte er sich in die wichtige Aufgabe, Mamas Sargdeckel hübsch zu machen. Ich war dem Jungen so dankbar! Der Bann war gebrochen. Nach und nach konnte ich auch die anderen Gäste dazu ermuntern, ihre Geschichten und Symbole auf den Sargdeckel zu malen. Es schien, als hätte Peter das künstlerische Zepter in die Hand genommen. Jedes Bild, jedes Wort, jedes Symbol hinterfragte er, wollte ganz genau wissen, was es bedeute. Stolz erklärte er den Erwachsenen, wie man beispielsweise einen Hund malt. Obwohl der offene Sarg in unmittelbarer Nähe stand, sah ich keine Tränen fließen. Ich sah in lächelnde Gesichter. Von alten Zeiten wurde erzählt, von Episoden und gemeinsamen Erinnerungen. Über allem schwebte eine schöne, gelöste und vertraute Stimmung. Das hatte ich wohl auch Peter zu verdanken. Er war mein kleiner heimlicher Held, von dem ich so viel lernen konnte. Ob der Familie auffiel, dass sie vergessen hatten, Kaffee und Kuchen mitzubringen? Das war nur zu verständlich und vielleicht auch besser so. Das Gesundheitsamt wäre über diese Kaffeerunde sicher nicht erfreut gewesen und hätte mir Ärger bereitet. Irgendwann strahlten so viele fantasievolle Bilder auf dem Sargdeckel, dass er für fertig erklärt wurde. Alle, auch Peter, traten an den offenen Sarg und verabschiedeten sich von der Verstorbenen. Von der Mutter, Lebensgefährtin, Tochter, Schwiegertochter, Schwester, Enkelin und Freundin.

Ein paar Tage später berichtete mir der Vater, dass das Abschiedsritual nicht nur seinem Sohn, sondern auch ihm gutgetan hatte. Gleichwohl teilte er mir mit, dass Peter nicht an der bevorstehenden Trauerfeier teilnehmen solle. Die Familie befürchtete, dass er die Feier als Fünfjähriger nicht verstehen würde. Überdies würde er während der Trauerfeier sicher unruhig werden. Weil sich aber zwischen Peter und mir beim Sargbemalen ein guter Draht aufgebaut hatte, wollte ich noch nicht aufgeben. Ich glaubte sogar, dass uns seit dem Tag eine besondere Freundschaft verband. Ich bot dem Vater an, dass ich mich während der Trauerfeier um ihn kümmere. Damit war er einverstanden.

Der Tag der Beisetzung 

Wie Peters Augen leuchteten, als er die Lichtertreppe sah! Doch schon bald kam es genauso, wie es die Familie vermutet hatte. Dem kleinen Jungen wurde langweilig. Ihm fehlte einfach die Ausdauer, einer langen Trauerrede zu folgen. Schon gar nicht verstand er das Gesagte. Welches Kind in diesem Alter sitzt gern so lange still? Wir gingen beide vor die Tür und spielten. Das gefiel ihm besser. Nach der Trauerfeier trippelte er an der Hand seines Papas mit zur Grabstelle. Schon von Weitem entdeckte er die Schale, die, mit Blütenblättern gefüllt neben der Gruft stand. Darf ich jetzt gleich für Mama Blumen in ein Loch streuen? Er wusste, eine neue wichtige Aufgabe wartet auf ihn. An der Urnengruft angekommen, schaute er prüfend rein, griff sogleich mit beiden Händen nach den bunten Blättern und warf sie hinein. Sein Papa musste ihn bremsen, sonst hätte er den anderen Trauergästen wohl nichts übrig gelassen. Peter sah zu, wie die Urne langsam hinuntergesetzt wurde. Da drin lag seine Mama, sie war jetzt so klein, dass sie da reinpasste. Er wusste, seine Mama liegt nun auf ganz vielen Blumen. Das ist schön, seine Mama mag Blumen.

 

Peters Familie erzählte mir später, dass ihnen diese Form des Abschiedes und der Beisetzung gefallen hat. Zwar ungewöhnlich, aber schön. So, wie es war, tat es ihnen und dem kleinen Peter gut. Sie waren froh, dass er dabei war.

 

Mir fällt gerade ein, dass es diese Trauerfeier war, bei der ich zum ersten Mal die Lichtertreppe einsetzte. Eine Holztreppe, die von den Anwesenden mit leuchtenden Teelichtern bestückt wird. Auch jetzt, wo ich diese Zeilen lese, muss ich wieder schlucken. Ich weiß noch, ich hatte damals das Gefühl, über mich hinausgewachsen zu sein. Im Nachklang empfand ich die Begleitung und Bestattung weniger als Arbeit, eher als ein wunderbares Geschenk.

Ich streiche die Blätter glatt und lege sie auf die andere Seite des Tisches, die Seite für den Gelesen-Stapel. Mein Blick schweift hinüber zu den noch nicht gelesenen Zetteln. Stella. Ja, richtig, Stella! Das kleine Mädchen, das so viele Fragen hatte.

Die Geschichte der kleinen Blume

Wie ein Schmetterling dem kleinen Löwenzahn hilft, den Weg von der grünen Knospe bis zur Pusteblume und dem, was danach kommt, zu verstehen. 

Andreas Schulz

Diese Broschüre soll Kindern ein wenig helfen, den Tod zu verstehen.